Von jeher wurden Schriftstücke so geschrieben, dass sie linear von vorne nach hinten gelesen werden können (vgl. [Münz 1997]). Das war bei alten Steintafeln der Fall, und ist auch bei heutigen Druckwerken nicht anders. Dieses Buch, das Sie gerade lesen, ist ebenfalls so aufgebaut, dass es sinnvoll ist, auf der ersten Seite zu beginnen und sich Seite für Seite zum Ende des Buchs voranzuarbeiten. Dies funktioniert in diesem Fall sehr gut, da die Lerneinheiten aufeinander aufbauen. Autoren anderer Bücher hingegen fühlen sich durch die traditionelle lineare Abfolge von Schriftstücken eingeengt. Frederic Vester, der Erfinder des vernetzten Denkens und vielfach ausgezeichnet für seine Bücher, beschreibt die Einschränkungen, mit denen ein Buchautor leben muss:
»Das Medium Buch mit der linearen Anordnung eines in diesem Falle ca. 1,9 Kilometer langen Buchstabenwurms ist, wie letztlich die Sprache überhaupt, nur bedingt geeignet für das Thema, das ich mir hier vorgenommen habe. Der Versuch, ein Gesamtbild der vernetzten Wirklichkeit zu geben, die eigentlich nur simultan erfasst werden kann, muss daher zwangsläufig unvollkommen bleiben.« [Vester 1980]
Die Idee des Hypertexts bricht mit den traditionellen Konventionen.
Wenn man es kompliziert ausdrücken möchte, ist Hypertext die nicht lineare Organisation heterogener Objekte, deren netzartige Struktur durch logische Verbindungen zwischen atomisierten Wissenseinheiten hergestellt wird. Einfacher formuliert, bezeichnet Hypertext die nicht lineare Präsentation von Inhalten. Die einzelnen Inhalte werden Knoten genannt. Über Verweise navigiert man von dem einen Knoten zum anderen.
Gegenüber der linearen Darstellung von Inhalten bietet Hypertext den Vorteil, eine größere Komplexität mit geringerer Redundanz vermitteln zu können. Zudem setzt sich in der Literatur (unter anderem [Schulmeister 2007]) zunehmend die Erkenntnis durch, dass unser vernetztes Denken ähnlich abläuft wie die Strukturen eines Hypertexts. Demnach entspricht die assoziative Struktur von Hypertext eher der Funktionsweise des menschlichen Denkens, was die Informationsaufnahme im Vergleich zu traditionellen Präsentationsformen beschleunigt.
Eine kurze Geschichte des Hypertexts
Hypertextuelle Strukturen sind seit Jahrhunderten bekannt. Dazu gehören Erschließungshilfen wie Inhaltsverzeichnisse, Indizes oder Fußnoten. Aber auch innerhalb eines Buchs ist es möglich, von einer Stelle zu einer anderen zu verweisen – denken Sie nur an Solo-Rollenspiele.
Ein Solo-Rollenspiel ist ein Buch, das in zahlreiche Abschnitte unterteilt ist. Die Abschnitte sind durchnummeriert. Der Spieler beginnt beim ersten Abschnitt und versucht, sich bis zum letzten Abschnitt durchzuschlagen. Am Ende jedes Abschnitts trifft der Spieler Entscheidungen, die jeweils auf unterschiedliche Folgeabschnitte verweisen, sodass sich verschiedene Handlungsstränge ergeben.
Falls Sie mit Rollenspielen im Allgemeinen oder Solo-Rollenspielen im Speziellen nicht vertraut sind, hier ein typisches Beispiel (entnommen aus [Dever, Chalk 1984]):
»Du eilst eine halbe Stunde oder länger durch den Wald und bahnst dir einen Weg durch Unterholz und Farn. Du stößt auf einen kleinen Bach. Du legst eine kurze Rast ein, wäscht dir das Gesicht und trinkst von dem klaren, kalten Wasser.
Du fühlst dich wie neugeboren, watest durch den Bach und gehst weiter. Nicht lange danach steigt dir der Geruch von Holzrauch in die Nase. Er scheint aus nördlicher Richtung zu kommen.
Willst du dem Geruch nachgehen und der Sache auf den Grund gehen, lies weiter bei 128.
Willst du lieber einen Umweg machen, lies weiter bei 347.«
Abhängig davon, wie der Spieler sich entscheidet, muss er in diesem Beispiel entweder zu Abschnitt 128 oder zu Abschnitt 347 blättern. Dort wird die Geschichte weitererzählt bis zu einem Punkt, an dem der Spieler sich erneut entscheiden muss. Rollenspielbücher sind eine klassische Hypertextanwendung.
Ein anderes Beispiel sind Enzyklopädien. Die Encyclopédie wurde Mitte des 18. Jahrhunderts von Denis Diderot, Jean Baptiste le Rond d’Alembert und über 100 weiteren Autoren verfasst. Sie sollte die Sammlung des gesamten Wissens der damaligen Zeit darstellen und ist die wohl berühmteste frühe Enzyklopädie im heutigen Verständnis. Im Vorwort schreibt d’Alembert:
»Bei der lexikalischen Zusammenfassung alles dessen, was in die Bereiche der Wissenschaften, der Kunst und des Handwerks gehört, muss es darum gehen, deren gegenseitige Verflechtungen sichtbar zu machen und mithilfe dieser Querverbindungen die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien genauer zu erfassen [...] es geht darum, die entfernteren und näheren Beziehungen der Dinge aufzuzeigen, aus denen die Natur besteht und die die Menschen beschäftigt haben [...].«
Um einem Querverweis zu folgen, muss der Leser im Buch vor- oder zurückblättern. Dies ist jedoch umständlich, und man findet nicht immer sofort den Abschnitt, den man sucht. Damit Hypertext wirklich funktioniert, muss die Verfolgung der Verweise mechanisiert beziehungsweise automatisiert erfolgen.
Eines der ersten Systeme dieser Art ist eine Maschine, die Raymond Roussel in den 1930er-Jahren als Lesehilfe für seine verschachtelten Texte entwickelte. Dabei handelte es sich um eine Art Wechselrad für Notizzettel, an deren Randfärbung die Verschachtelungstiefe der Notiz abzulesen war. Zwischen den Zetteln wechselt der Leser mit einer Kurbel, sodass er die farblich als zusammenhängend gekennzeichneten Textteile gesondert lesen kann.
Memex
Das moderne Hypertextkonzept wurde erstmals von Vannevar Bush im Jahr 1945 in dem Artikel »As We May Think« [Bush 1945] in der US-amerikanischen Zeitschrift »The Atlantic Monthly« veröffentlicht. Bush war damals Leiter des »US Office of Scientific Research and Development« und überwachte in dieser Position die Entwicklung der ersten Atombombe. Der Artikel erscheint aus heutiger Sicht visionär, denn er nimmt wesentliche Züge der Computerentwicklung vorweg und wird inzwischen als einer der wichtigsten Texte in der Theoriegeschichte der Computer betrachtet.
Bush beschreibt darin seine Vision eines Systems, das er Memex nennt und das das Wissen eines bestimmten Gebiets elektronisch aufbereitet leicht zugänglich darstellen kann. Das Besondere an seinem System sind Verweise, denen Nutzer mit elektronischer Hilfe leicht folgen können und die so auch Bücher und Filme aus Bibliotheken einfach aufrufen können. Die Maschine soll die Form eines Schreibtischs haben und eine Kombination aus elektromechanischen Kontrollen und Mikrofilmgeräten beinhalten. Auf zwei nebeneinanderliegenden, berührungssensitiven Bildschirmen sollen Informationsinhalte projiziert werden. Der Benutzer würde in diesen Informationen mit Hebeln vor- und zurückblättern sowie Dokumente speichern und wieder aufrufen können. Außerdem würde es die Möglichkeit geben, Seiten durch »Verknüpfungen« aufeinander verweisen zu lassen.
Bush schreibt in seinem Text:
»Ganz neue Arten von Enzyklopädien werden entstehen, bereits versehen mit einem Netz assoziativer Pfade, bereit, in den Memex eingebaut und dort erweitert zu werden. Der Anwalt hat auf Tastendruck die gesammelten Gutachten und Entscheidungen seines gesamten Berufslebens zur Verfügung, ebenso wie die von Freunden und Autoritäten. Für den Patentanwalt stehen Hunderttausende ausgegebener Patente bereit, mit vertrauten Pfaden zu jedem Punkt, der für seinen Klienten von Interesse sein könnte. Der Arzt, verwundert über die Reaktion eines Patienten, folgt dem Pfad, den er bei der Erforschung eines früheren, ähnlichen Falls angelegt hat, und kann rasch andere Fallgeschichten durchgehen, mit Hinweisen auf die relevanten Klassiker der Anatomie und Histologie. Der Chemiker, der sich mit der Synthese einer organischen Verbindung müht, hat alle Fachliteratur in seinem Labor vor sich, mit Pfaden, die sich mit Vergleichen zwischen Verbindungen befassen, und Seitenpfaden über ihre physikalischen und chemischen Eigenschaften.
Der Historiker, der eine ausführliche Chronologie eines Volkes anlegt, versieht diese parallel mit einem Schnellpfad, der nur die wichtigsten Punkte berührt, und kann jederzeit von dort aus anderen, über die gesamte Zivilisation einer bestimmten Epoche führenden Pfaden folgen. Es wird ein neuer Berufszweig von Fährtensuchern entstehen, die sich damit beschäftigen, nützliche Pfade durch die ungeheure Menge von Aufzeichnungen und Dokumenten anzulegen. Ein Meister kann seinen Schülern nicht nur die eigenen Ergänzungen zu den Aufzeichnungen dieser Welt hinterlassen, sondern das gesamte Gerüst, mit dessen Hilfe sie entstanden sind.«
Xanadu
Die Begriffe Hypertext und Hypermedia prägte Ted Nelson, US-amerikanischer Gesellschafts- und Computerwissenschaftler, im Jahr 1965 im Rahmen seines Hypertextprojekts Xanadu. Nelson konzipierte Xanadu als dezentrales Speichersystem für Dokumente, von denen jedes eine vom Speicherort unabhängige, eindeutige Adresse besitzt. Auch jedes Zeichen innerhalb eines Dokuments ist eindeutig adressierbar. Nelson brachte in sein Projekt zahlreiche richtungsweisende Ideen ein, unter anderem:
- Versionierung
- Jedes in Xanadu abgelegte Dokument stellt einen unlöschbaren Eintrag in einer Datenbank dar. Nach Veröffentlichung einer neuen Version desselben Dokuments bleiben die alten Versionen weiterhin verfügbar. Nutzer können Versionen miteinander vergleichen und Versionsunterschiede einfach sichtbar machen.
- Mehrfenstertechnik
- Zusammengehörende Dokumente werden in parallelen Fenstern angezeigt. Zwischen diesen Fenstern werden die Verbindungen zwischen den Dokumenten (Hyperlinks etc.) sichtbar gemacht.
- Bidirektionale Verweise
- Wird in Xanadu auf ein Dokument verwiesen, kennt auch das verlinkte Dokument diese Verbindung. So kann das Benutzerprogramm stets auch alle Dokumente anzeigen, die auf das aktuell betrachtete Dokument verweisen.
- Inhalte einbetten
- Um beispielsweise aus einem Buch zu zitieren, müssen Nutzer das Zitat nicht abtippen, sondern können die entsprechende Stelle einfach verlinken. Benutzerprogramme betten den Text als Zitat ein.
Der Informationswissenschaftler Rainer Kuhlen schreibt über Xanadu:
»Das auch heute noch utopisch anmutende Endziel ist dabei die Verwaltung des gesamten Weltwissens über ein riesiges, computerunterstütztes Begriffsnetz, das den Zugriff auf die entsprechenden informationellen Einheiten gestattet. Durch die Möglichkeit der simultanen und kollektiven Bearbeitung eines Dokuments soll der tendenzielle Gegensatz zwischen Autor und Leser aufgehoben werden. Die Aufgabe solcher Systeme beschränkt sich nicht allein auf die Verwaltung der vielfältigen und komplexen Beziehungen zwischen einzelnen Hypertexteinheiten. Es sind darüber hinaus auch Mechanismen erforderlich, die bei extensivem Mehrbenutzerbetrieb die Integrität, Aktualität und auch das Rückverfolgen der Entstehungshistorie eines Dokuments gewährleisten sowie den Schutz von Urheber-, Nutzungs- und Vervielfältigungsrechten unterstützen.« [Kuhlen 1991]
Das Xanadu-Projekt fand in der breiten Öffentlichkeit wenig Anklang, was hauptsächlich an seiner Komplexität liegt. Bis heute existieren nur Prototypen, obwohl oder gerade weil Nelsons Ideen und Konzepte weit über das hinausgehen, was heutige Hypertextsysteme, wie Wikis oder das World Wide Web, bieten. Nelson steht dem Web daher bis heute skeptisch gegenüber:
»Viele Leute denken, Xanadu war ein Versuch, das World Wide Web zu errichten. Ganz im Gegenteil: Das World Wide Web war exakt das, was wir zu vermeiden versuchten.«
Augment
1968 präsentierte Douglas C. Engelbart zusammen mit einer Gruppe von 19 Forschern, die gemeinsam am Augmentation Research Center des Stanford Research Institute im US-Bundesstaat Kalifornien arbeiteten, ein Hypertextsystem namens Augment, das sie seit 1962 entwickelten und das sich mithilfe eines Holzklotzes mit Sensoren, den Engelbart Mouse nannte, bedienen ließ. Diese Präsentation war die öffentliche Geburt der Maus als Eingabegerät. Darüber hinaus präsentierte Engelbart Innovationen wie Hypertext, Mehrfenstertechnik sowie die Verknüpfung heterogener Informationen über Zeiger. Im Gegensatz zu Xanadu konnte hier eine real existierende Software bestaunt werden. Das Video können Sie sich noch heute anschauen.
XLink
Eine der neueren Entwicklungen im Bereich des Hypertexts ist XLink (XML Linking Language) [REC-XLink10 2001]. XLink entstand im Jahr 2001 und erlaubt, Elemente in XML-Dokumente einzufügen, um Links zwischen Ressourcen zu erzeugen und zu beschreiben. XLink nutzt XML-Syntax. Links können unidirektional sein wie im heutigen HTML, also ein Link von genau einem Quell- zu genau einem Zielanker (Anker), oder aber multidirektional, das heißt unterschiedliche Wege zwischen beliebig vielen Ressourcen beschreiben.
Zusammenfassung
Tabelle 2.2 fasst die Geschichte des Hypertexts kurz zusammen.
Zeitraum | Entwicklung | Beteiligte |
---|---|---|
1945 | Memex | Vannevar Bush |
seit 1960 | Xanadu | Ted Nelson |
1965 | »Hypertext«, »Hypermedia« | Ted Nelson |
1968 | Augment | Douglas C. Engelbart u. a. (Augmentation Research Center) |
1989 | HTML | Tim Berners-Lee (CERN, später W3C) |
2001 | XLink | Steve DeRose (Brown University Scholarly Technology Group), Eve Maler (Sun Microsystems) und David Orchard (Jamcracker) für das W3C |